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Angelika Beer
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Munition in der Ostsee - Gift und Sprengkraft aus der Tiefe

02.04.2007

Alte Bomben, giftige Chemikalien, plötzliche Explosionen - Experten schlagen Alarm: Die Ostsee ist in den kommenden Jahren durch rostende Munition akut bedroht. Schon jetzt gebe es beunruhigende Zwischenfälle. Trotzdem untersuchen die Behörden das Problem nur sporadisch.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Ostsee im großen Stil als Munitionsklo missbraucht - heute bedrohen alte Minen, Bomben und Torpedos das Meer und seine Anwohner. Durchschnittlich 3000 Kilogramm Munition im Jahr gehen einem Fischer ins Netz, berichtet der Umweltgutachter Stefan Nehring. Regelmäßig registrieren Erdbebenmessgeräte Detonationen im Meer, sagte der Umweltingenieur Marc Koch bei einer Internationalen Tagung zu Munition in der Ostsee, die am Wochenende in Berlin stattfand.

Giftige Kampfstoffe werden künftig vermehrt an die deutschen Küsten angeschwemmt, warnte auch Robert Zellermann, lange Jahre der oberste Kampfmittelräumer Niedersachsens. Denn die meisten Bomben seien inzwischen durchgerostet, Strömungen würden das Gefahrgut verstreuen. Etwa ein Drittel des Ostseebodens sei bereits mit Kampfstoffen überzogen.

Der russische Umweltforscher Tengis Borisow warnte in Berlin vor einem Desaster, das "mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl vergleichbar" sei. Strandbesucher, Fischer und Schiffsbesatzungen seien in Gefahr - und Ostseefisch könnte womöglich ungenießbar werden. Die Mehrheit der Experten sieht die Bedrohung durch den Munitionsmüll indes etwas gelassener. Das Ausmaß lässt sich jedoch kaum abschätzen, weil Untersuchungen bislang fehlen.

Besonders die Gefahr durch chemische Kampfstoffe wird nach Ansicht der Experten unterschätzt. Sie können zu schweren Verbrennungen und Verätzungen führen, Erblindung verursachen und Krebs auslösen - wie es vielen Fischern und Marinesoldaten bereits passiert ist. Würden die unscheinbaren Stoffe an Bord eines Fischerbootes nicht rechtzeitig bemerkt, verteilten sie sich über den Fischfang, warnt Zellermann. Die Gifte drohten in die Nahrungskette zu gelangen, sagte der estnische Forscher Arnold Pork. Fischer hätten in den letzten Jahren vermehrt mutierte Tiere aus der Nähe verklappter Munition gefangen.

Gefahr durch Geheimhaltung

Große Menge des Nervengiftes Tabun seien entgegen ursprünglicher Informationen der USA in der Ostsee versenkt worden, berichtet Kampfmittelexperte Zellermann. Er präsentierte in Berlin Dokumente, die belegen sollten, dass die USA im Skagerrak in der nördlichen Ostsee rund eine halbe Million Tabun-Bomben verklappt hätten. "Die Aufzeichnungen zeigen nur das Minimum, die Mengen sind vermutlich weitaus größer", sagte Zellermann. "Es muss verhindert werden, dass die Stoffe an die Strände schwemmen", forderte die russische Regierungsvertreterin Irina Osokina.

Auch überraschende Bombenfunde in Küstennähe zeigen, dass die Bedrohung anscheinend unterschätzt wird. Erst kürzlich hatte ein Fernsehteam in der Kieler Förde 70 Torpedo- Sprengköpfe und Minen entdeckt, deren giftiger TNT- Sprengstoff ins Wasser bröckelt. Schon im Jahr 2001 waren zwei Dutzend Wasserbomben und 3000 Granaten in der Flensburger Förde gefunden worden.

Wie viele Unfälle es gibt, ist unklar. Nur Dänemark veröffentlicht eine Statistik. Dort verletzen sich jährlich etwa 20 Menschen durch Kampfmittel aus dem Meer. 2005 tötete eine Bombe drei niederländische Fischer an Bord ihres Kutters. Auch auf der deutschen Nord- und Ostsee kommt es jedes Jahr zu Unfällen. Wie SPIEGEL ONLINE von Insidern erfuhr, führen mehrere Bundesländer entsprechende Unfallstatistiken.

Aufzeichnungen unvollständig - und mittlerweile gelöscht

Doch deutsche Behörden bestreiten, über systematische Aufzeichnungen zu verfügen - und verweisen auf die jeweils Anderen. Schleswig-Holsteins Innenminister Ralf Stegner (SPD) erklärte in einem Schreiben an Angelika Beer, Abgeordnete der Grünen im Europaparlament, Hamburg führe eine Unfallstatistik. Das seien lediglich sporadische Aufzeichnungen des Kampfmittelräumdienstes, erklärte aber die Hamburger Innenbehörde gegenüber SPIEGEL ONLINE. Herausgeben wollte sie diese nicht. Die Daten ließen "keine Rückschlüsse zu", sie seien unvollständig - und "zwischenzeitlich gelöscht" worden.

Auch der Kampfmittelräumdienst Schleswig-Holsteins verfügt nach eigener Auskunft nur über "unvollständige Aufzeichnungen" von Munitionsunfällen. Eine vollständige Statistik könne man kaum erstellen, denn Unfälle seien nicht meldungspflichtig. "Jeder zeigt mit dem Finger auf den anderen", sagte Beer zu SPIEGEL ONLINE. Die Behörden verschlössen die Augen vor der Gefahr, das sei unverantwortlich. "Fakten werden so verdreht, dass sich die Balken biegen."

Was ist Warnung, was Übertreibung? Bislang seien Munitionsverletzungen auf der Ostsee "Einzelfälle" sagte Kai Kehe, Toxikologie-Experte der Bundeswehr. Er wies auf die "besondere Gefahr" bei der Bergung von Munition hin. Für die Küsten bestehe dagegen im Moment kaum eine Bedrohung, weil sich viele Gifte im Wasser schnell verflüchtigten, sagte auch der finnische Forscher Tapani Stipa vom Finnish Institute of Maritime Research in Helsinki. Auch er betonte aber, das Problem sei noch wenig erforscht.

Chaotische Entsorgung, unklare Gefahrenstellen

Die Lage der meisten Munition sei unbekannt, sagte Gutachter Nehring. Die Entsorgung der Munition vor 62 Jahren sei zuweilen chaotisch verlaufen. Größere Mengen Munition seien nicht wie vorgesehen an besonders tiefen Stellen versenkt worden, weil die Bootsführer per Ladung entlohnt worden seien und so schnell wie möglich die nächste Fracht aufnehmen wollten. Entsprechend verstreut lägen die Kampfstoffe am Meeresboden - wo Strömungen und Fischernetze sie weiter verteilten.

Bereits vor 13 Jahren hatten die Ostseeanrainer in einer gemeinsamen Erklärung der Helsinki-Kommission eine großangelegte Suche nach dem gefährlichen Kriegsschrott empfohlen. "Das ist kaum geschehen", rügte Irina Osokina.

US-Aufzeichnungen könnten Aufschluss über unbekannte Munitionslager geben, erklärt Manfred Boese, Präsident des International Institute of Ecological Safety for Baltic and Northern Seas, das die Berliner Tagung organisiert hat. Doch die USA wollten die Dokumente noch mindestens zehn Jahre unter Verschluss halten. "Im Interesse der Sicherheit müssen wir auf die Veröffentlichung der Daten drängen", erklärt Boese.

Sorge um deutsch-russische Ostseepipeline

Angesichts der Munitionsaltlasten finden einige Experten die geplante Verlegung einer 1200 Kilometer langen Erdgasleitung durch die Ostsee von Russland nach Deutschland besonders heikel. Die Betreibergesellschaft Nord Stream hatte vergangene Woche erklärt: Sollte auf der geplanten Trasse Munition gefunden werden, würde die Leitung anderswo verlegt. Sei das nicht möglich, würden "weitere Vorgehensweisen" untersucht.

Um die Bedrohung zu verringern, schlägt Umweltingenieur Koch vor, wenigstens die größten Munitionsdepots zu bergen. Die Tagungsteilnehmer wollen nun die Gefahren genauer beziffern und den Teilnehmern des G8-Gipfels im Juni im Ostseebad-Heiligendamm präsentieren, sagte Boese.

Die Politik müsse sich "dem Munitionsproblem annehmen", sagte Grünen-Politikerin Beer - auch die EU-Kommission. Doch selbst im "Grünbuch Meerespolitik" der EU finden Munitionsaltlasten bislang keine Erwähnung. Bis Ende 2007 wollen die Europäer darin länderübergreifende Verordnungen für Wirtschaft, Umweltschutz, Raumplanung, Fischerei und Tourismus entwickeln - fünf Bereiche, für die sich die zerfallenden Kampfmittel am Meeresgrund als böses Erbe entpuppen könnten.

Axel Bojanowski / Spiegel online

 

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Dieser Text ist Teil des Internetauftritts von Angelika Beer, MdEP.
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