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Angelika Beer
MdEP

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Fall Cap Anamur: „Ein politischer Schauprozess“

09.03.2007

Interview mit Angelika Beer zum Verfahren gegen die ¬ÑCap Anamur¬ì-Verantwortlichen und die europˆ§ische Flüchtlingsabwehr

In Italien stehen drei Mitglieder von ¬ÑCap Anamur¬ì vor Gericht, die Schiffbrüchige aus dem Wasser gezogen haben. Was hat das für eine Bedeutung, dass sie jetzt als Verbrecher gelten sollen?

Beer: Aus meiner Sicht ist es ganz klar ein politischer Schauprozess. Es ist ein Instrument der Abschreckung, deshalb auch die Anklage gegen drei - gegen den Kapitˆ§n Stefan Schmidt, gegen Elias Bierdel und gegen den 1. Offizier -, denn es braucht drei Angeschuldigte für die Einleitung eines Schlepper-Banden-Prozesses. Vˆllig absurd, wenn man sich klar macht, was damals passiert ist. Der Prozess hat nur ein Ziel: Im Zweifel soll man lieber weggucken. Alle sollen wissen: Wer humanitˆ§r handelt - und dazu sind wir und sind Seeleute international verpflichtet -, wird vor Gericht gezerrt. Der Prozess kann sechs Jahre dauern. Das ist existenzgefˆ§hrdend für die Angeklagten. In dieser Zeit sollen Organisationen wie Cap Anamur als Kriminelle hingestellt werden. Deshalb brauchen wir eine internationale Solidaritˆ§t für die Retter wie für die Flüchtlinge.

Wirkt denn die Abschreckung? Gibt es Informationen, dass Kapitˆ§ne weggucken?

Beer: Ich kann mich natürlich nur auf Gesprˆ§chspartner beziehen. Es ist eine dreifache Abschreckung: die Kriminalisierung der Helfer, die menschunwürdige Unterbringung der Flüchtlinge und es gibt die institutionalisierte Abschreckung durch die Grenzschutzagentur FRONTEX. Das alles wird mˆglich durch das gesellschaftliche Versagen. Die auslˆ§nderfeindliche Kampagne ¬ÑDas Boot ist voll¬ì hat gewirkt ¬ñ und wer auf Gran Canaria oder Malta Urlaub machen will, vermeidet jeden Kontakt mit der bitteren Realitˆ§t des Flüchtlingselends dort. Das habe ich auch auf Gran Canaria erlebt, wo ich im Oktober zwei solcher Flüchtlingsauffanglager besucht habe.

Ich habe dort einen aus Deutschland stammenden Journalisten getroffen, der jetzt dort lebt. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, was passiert, wenn die Flüchtlinge ankommen. Er hat sehr klar gesagt: ¬ÑDas hier ist unser Guantanamo. Aber wir leben vom Tourismus, schon in der Bevˆlkerung kann man schwer Solidaritˆ§t oder Humanitˆ§t erzeugen¬ì. Er berichtete von Vorfˆ§llen die den Schluss zulassen, dass Kapitˆ§ne tatsˆ§chlich wegschauen. Sie drehen ab, wenn sie ein Flüchtlingsboot sehen, alarmieren per Funk die Behˆrden ¬ñ und hoffen so unbehelligt davon zu kommen. Denn jeder Kapitˆ§n weiˆü: Sonst riskiert er ¬ñ wie damals Cap Anamur ¬ñ die Beschlagnahme seines Bootes, die Verweigerung von Einlaufgenehmigungen und Gefˆ§ngnisstrafen.

Dazu kommt dann die institutionalisierte Abschreckung durch die Europˆ§ische Grenzschutzagentur FRONTEX. Das Ziel ist offenbar, mˆglichst frühzeitig den Flüchtlingsbooten einen Schuss vor den Bug zu setzen, damit sie umkehren. Offiziell heiˆüt es immer, die Grenzschutzagentur sei dazu da, die Probleme von Flüchtlingen zu lindern, aber es ist eine Militˆ§risierung der Flüchtlingspolitik - und Deutschland macht da als EU-Ratsprˆ§sidentschaft an prominenter Stelle mit. Die Bundesregierung hat sich sogar die weitere Stˆ§rkung von FRONTEX zur Aufgabe gemacht. Ganz konkret steht die Anfrage von EU-Kommissar Frattini nach Hubschraubern, Militˆ§rschiffen und so weiter im Raum. Es ist unsere Aufgabe im Europaparlament, dagegen eine Abwehrstrategie zu formulieren, was schwer ist, weil wir nur schwer an Informationen kommen. FRONTEX verweigert die parlamentarische Kontrolle. Ich empfehle jedem, die Homepage www.frontex.europa.eu anzuklicken. Es gibt keine brauchbaren Aussagen.

Kostet FRONTEX nicht Geld? Die Parlamente beschlieˆüen doch über den Haushalt und Ausgaben.

Beer: Das ist richtig. Es ist allerdings eine Mischfinanzierung der Gemeinschaft und der Mitgliedsstaaten. Wenn es jetzt etwa um die Anforderung von Hubschraubern etc. geht sind die Mitgliedsstaaten gefragt. Und in jedem Parlament braucht man Mehrheiten. Bei einem Kompromiss wie dem EU-Haushalt kann man eine mehrheitliche Ablehnung angesichts der groˆüen Koalition im EP kaum organisieren. Es fehlt insbesondere aber an Transparenz: Das Parlament berˆ§t offiziell die Arbeitsprogramme und Tˆ§tigkeitsberichte, aber das Problem ist, das dort nichts Brauchbares drin steht. Im Arbeitsprogramm 2006 waren alle operativen Aspekte gesperrt. Um an Informationen ranzukommen, arbeiten wir auch eng mit unserer Bundestagsfraktion zusammen: Fragen, die wir nicht beantwortet bekommen, stellen die dann im Bundestag und umgekehrt. Das ist ein mühsames Geschˆ§ft, aber wir wollen dieser Agentur die Maske der ¬Ñhumanitˆ§ren Bemühungen¬ì runterreiˆüen.
Geld ist ganz entscheidend in der Europˆ§ischen Flüchtlingspolitik. Aber statt eine gemeinsame solidarische Flüchtlingspolitik aufzubauen, schottet sich Europa immer mehr ab. Wir setzen uns für einen Fonds ein, in den alle Mitglieder einzahlen, um sicherzustellen, dass die Flüchtlinge human untergebracht, medizinisch versorgt werden und dass genügend und gut ausgebildetes Personal vor Ort ist. Solch einen Fonds, in den alle EU-Mitgliedsstaaten einzahlen müssen, wollen wir. Aus diesen Mitteln würden dann z.B. Spanien oder Italien Unterstützung bekommen, um allgemeine Menschenrechtsstandards einzuhalten und die Flüchtlinge nicht lˆ§nger als schnellstmˆglich abzuschiebende Kriminelle zu behandeln. Deutschland gehˆrt da bisher zu den Bremsern. Schˆ§uble blockiert jeden solidarischen Ansatz mit der Begründung, Deutschland hˆ§tte wˆ§hrend des Balkankrieges sein eigenes Flüchtlingsproblem auch alleine bewˆ§ltigt, nun sollen die anderen auch ihr Problem alleine lˆsen. Das ist nationalstaatliche Zynismus.

 

 

 

 

 

 

 

Kannst du Nˆ§heres zu den Flüchtlingscamps sagen, in die die ˆúberlebenden kommen?

Beer: Ich habe im Oktober mit Kolleginnen und Kollegen ein Lager und ein umfunktioniertes ehemaliges Gefˆ§ngnis auf Gran Canaria besucht. Die Genehmigung der staatlichen Stellen war nicht einfach zu bekommen. Wir wurden dann von der Polizei dort hingebracht, durch militˆ§rische Sperrzonen auf den kahlsten Gipfel der ganzen Insel. Im Sommer sind dort bis zu tausend Boots-Flüchtlinge bei Temperaturen von über 40 Grad eingepfercht. Sie leben nicht in festen Gebˆ§uden, sondern in Zelten, alles sehr eng. Wir wissen von guten Freunden, dass zum Zeitpunkt unserer Ankunft auf der Insel noch mehrere hundert Flüchtlinge in diesem Lager waren. Erst kam eine Ablehnung der spanischen Regierung, dann kam kurzfristig die Genehmigung. Als wir am nˆ§chsten Morgen eintrafen, waren dort der Lagerkommandant und nur noch 34 Flüchtlinge im Lager. Die anderen haben sie in der Nacht abgeschoben. Ich war anfangs wirklich schockiert, über die Abschiebung, die erniedrigende Unterbringung der restlichen Flüchtlinge, die die Hinterlassenschaften der Abgeschobenen in riesigen Müllsˆ§cken zu verstauen hatten. Und selbst die 34 lieˆü man in vollkommener Ungewissheit, was danach mit ihnen passieren würde. War es ein Fehler das Lager zu besuchen? Letztlich denke ich nein, nur so kˆnnen wir die Missstˆ§nde dort ˆffentlich anprangern und versuchen, die Praxis zu verˆ§ndern

Was ist denn auf Europaebene bekannt über die Grˆˆüenordnungen? Wie viele MigrantInnen kommen übers Meer, welchen Anteil an der Gesamtmigration ist das, wie viele Tote gibt es?

Beer: Genaue Zahlen ¬Ö Im vergangenen Jahr erreichten 31.000 Flüchtlingen allein die Kanarischen Inseln. Das erschreckende ist: Es gibt keine genaue Zahlen über die Toten. Durch die jetzige Politik, die FRONTEX-Einsˆ§tze an den kürzesten Passagen, werden die Flüchtlinge zu gefˆ§hrlicheren Routen gezwungen. ˆúberlebende, mit denen ich gesprochen habe, erzˆ§hlen, dass sie sich gezwungen sehen, den Weg bei einem Misserfolg immer wieder zu gehen. Entweder schaffen sie es oder sie ertrinken. Das macht die ganze Perversitˆ§t dieser Politik deutlich: Sie kann die Einwanderungsversuche nicht stoppen und sie ist humanitˆ§r katastrophal. Zu versuchen, die Menschen von der Flucht abzuhalten, ist so sinnlos wie der Versuch, den Wind zwischen zwei Fingern einzufangen. Dazu kommt, dass die Europˆ§ische Union durch ihre inkohˆ§rente Politik Schlepperbanden quasi selbst produziert. Ein Beispiel: Marokko hat die die Westsahara vˆlkerrechtswidrig besetzt hat. Die Europˆ§ische Union aber hat entgegen dem Vˆlkerrecht und entgegen UN Beschluss ein Fischereiabkommen mit Marokko abgeschlossen, das die Gewˆ§sser der Sahrauis mit einschlieˆüt. Damit hat man den Sahrauis, die bisher von der Fischerei gelebt haben, die Existenzgrundlage entzogen. Marokko hat den Profit aus dem Fischfang alleine, die Sahrauis glauben nur noch dadurch überleben zu kˆnnen, indem sie Flüchtlingen mit ihren Fischerbooten ˆúberfahrten auf die Kanarischen Inseln anbieten.

 

 

Auf Europaebene gibt es ja auch immer wieder Studien darüber, wie viel Einwanderung Europa die nˆ§chsten 10, 20 oder 50 Jahre braucht. Wie passt das mit der Flüchtlingsabwehr zusammen?

Beer: Das passt überhaupt nicht zusammen. Europa ist derzeit ein Haus ohne Türen. Wer hineinkommen will, muss durchs Fenster klettern und sich dann im Keller verstecken. Und die EU positioniert im Moment in den Fenstern noch bewaffnete Krˆ§fte. Wir brauchen Türen, wir müssen den Menschen Gelegenheit geben, anzuklopfen und hineinzukommen. Aber solange wir den Verfassungsvertrag nicht haben, sind es die Innenminister der Mitgliedslˆ§nder, die entscheiden. Und was dabei herauskommt, wissen wir: Erinnere dich an die Situation damals auf dem Balkan, die Abschiebungen nach Bosnien und Kosovo. Das ist alles nationale Politik.
Das andere: Wir müssen die Einwanderungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit sehr genau aufeinander abstimmen. Es darf nicht sein, dass wir mit einer ¬ÑGreen Card¬ì die besten Leute aus den Lˆ§ndern rausfischen, die dann bei der Entwicklung in ihrer Heimat fehlen und gleichzeitig auch noch den Eindruck verstˆ§rken, dass in Europa alle ganz reich werden. Es muss darum gehen, den Lˆ§ndern selbst zu helfen, um den Menschen eine Perspektive zum Dableiben zu geben. Es darf gar nicht erst dazu kommen, dass sie ihr Land verlassen wollen, ihre Helfer vor Gericht gestellt und sie selbst abgeschoben werden.

Ist es auch ein Rassismusproblem? Bei Erntearbeitern und weiblichen Pflegekrˆ§ften aus Osteuropa wird weggeguckt, bei afrikanischen Flüchtlingen steigen die Hubschrauber auf.

Beer: Ja, wobei meine groˆüe Sorge ist, dass sich der Rassismus auch gegen Osteuropa und andere Staaten wendet, die ihre Zukunft in der Europˆ§ischen Union sehen. Das gilt insbesondere für die Balkanstaaten. Wir haben eine Politik der Diskriminierung in Deutschland, es gibt eine Doppelzüngigkeit im Umgang mit den Staaten, aber auch mit den Menschen. Hier in Neumünster haben wir damals die Kirchenbesetzung von Kosovo-Albanern unterstützt, die dann mit Gewalt abgeschoben wurden. Kurze Zeit darauf hat die NATO interveniert mit der Begründung, die Kosovo-Albaner vor der ethnischen Vertreibung zu schützen. Diese Politik war hochgradig widersprüchlich. Und jetzt wird den Menschen durch strenge Visa-Bestimmungen der Kontakt mit Europa erschwert und frühere Zusagen der mˆglichen EU-Mitgliedschaft revidiert. Die Zukunftsperspektive wird ihnen einfach aus nationalen Gründen genommen.

Willst du eine Prognose wagen für den Prozess in Italien? Was ist aus Deiner Sicht nˆtig, um die Angeklagten zu Unterstützen? Was ist nˆtig in Richtung auf die italienische Regierung oder auf die deutsche Regierung? Was ist nˆtig in Richtung Schleswig-Holstein und Lübeck? Aus Lübeck kommt das Schiff ja.

Beer: In der damaligen rot-grünen Regierung hat Otto Schily 2004 jegliche Unterstützung abgelehnt. Inzwischen haben wir in Deutschland und Italien neue Regierungen. In Italien sogar mit grüner Beteiligung. Beide müssten angesichts dieses Schauprozesses die frühere Position wechseln und sich für eine Beendigung des Prozesses aussprechen. Ich fürchte nur, sie werden sich mit der Unabhˆ§ngigkeit der Justiz rausreden, und solange der Prozess lˆ§uft, an dessen Abschreckungswirkung erfreuen. Wir müssen ein solidarisches Netz schaffen, einmal für die, die angeklagt sind, zweitens müssen wir die Umsetzung von internationalen Konventionen in der EU einfordern, auch im Interesse derjenigen, die wie Stefan Schmidt als Kapitˆ§n unterwegs sind auf den Weltmeeren. Egal, wie viele Flüchtlinge kommen, und egal, woher sie kommen - unterlassene Hilfeleistung ist strafbar und nicht Lebensrettung! Drittens müssen wir die Fluchtursachen bekˆ§mpfen, also nicht nur diskutieren, ob man Truppen in den Kongo schickt, sondern eine umfassende Afrika-Strategie entwickeln, Afrika bei all seinen Problemen helfen und vor allem einen gerechten Welthandel ermˆglichen. Das ist eines der Themen, dass wir beim G8-Gipfel in Heiligendamm wieder von unten vorantreiben müssen.

Das Interview führte Reinhard Pohl/Gegenwind

Angelika Beer ist schleswig-holsteinische Europaabgeordnete von BˆúNDNIS 90/DIE GRˆúNEN

Prozesstagebuch von Elias Bierdel
http://www.elias-bierdel.de/prozess/

 

© 2004 - Angelika Beer, MdEP.
Dieser Text ist Teil des Internetauftritts von Angelika Beer, MdEP.
www.angelika-beer.de

 

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