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Angelika Beer
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Interview: "Entscheidung in Diyarbakir"

22.05.2004

Angelika Beer sprach nach ihrer Türkeireise im Frühjahr 2004 mit der Berliner Zeitung über den EU-Beitritt der Türkei. Das Interview erschien am 22. 5. 2004.


Berliner Zeitung: Frau Beer, Sie waren vor kurzem in der Türkei. Welchen Eindruck haben Sie von den dortigen Reformen?

Beer: Der Reformprozess in der Türkei ist atemberaubend. Es hat eine spürbare Veränderung in dem Land stattgefunden. Nicht nur, was die Gesetze der AKP-Regierung betrifft, sondern auch im Bereich der Umsetzung. Die in der Bevölkerung vorherrschende Aufbruchstimmung ist deutlich zu spüren.

Berliner Zeitung: Wie beurteilen Sie die Lage der Menschenrechte?

Beer: Leider bleibt die Praxis noch stark hinter den beschlossenen Reformvorhaben zurück. Vor allem in der Justiz und in den Gefängnissen.

Berliner Zeitung: Sehen Sie die Kurdenfrage gelöst?

Beer: Nein. Hier fehlt der AKP wie allen vorherigen Regierungen ein Konzept zur politischen Lösung. Es gibt nicht mal ein Programm um die wirtschaftliche und soziale Notlage im Südosten zu bekämpfen. Der Weg hin zur EU wird aber nicht in Istanbul, sondern in Diyarbakir entschieden. Wenn die AKP das ignoriert, gefährdet sie den gesamten Reformprozess und damit die weitere Annäherung an die EU. Zunächst müssen in den nächsten Monaten zwei konkrete Maßnahmen erfolgen: Die Haftstrafe gegen Leyla Zana und drei weitere kurdische Politiker muss aufgehoben und das Verbotsverfahren gegen die kurdische Partei DEHAP eingestellt werden. Sollte beides verweigert werden, wird es zu Rückschlägen bei der Annäherung der Türkei an die EU kommen.

Berliner Zeitung: Welche Reformen sind nötig?

Beer: Das Gesetz zur Anwendung der kurdischen Sprache ist unzureichend. Es besteht noch immer mehr Zensur als Anerkennung der kulturellen Rechte. Kurdische Fernsehsendungen sind zeitlich begrenzt und unterliegen der behördlichen Kontrolle. Das hat nichts mit Anerkennung der kurdischen Realität zu tun.

Berliner Zeitung: Was ist mit den paramilitärischen Dorfschützern?

Beer: Das System der Dorfschützer muss abgeschafft werden. Noch heute sind 60 000 Dorfschützer, die im Kampf gegen die PKK eingesetzt wurden, im Südosten aktiv. Sie haben Kurden vertrieben und deren Wohnungen in Beschlag genommen. Die Vertriebenen können nur in ihre Dörfer zurückkehren, wenn die Dorfschützer entwaffnet und die Häuser zurückgegeben werden.

Berliner Zeitung: Reicht das zeitlich befristete Amnestiegesetz für frühere PKK-Kämpfer?

Beer: Nein. Dieses Gesetz muss neu gefasst werden und für einen längeren Zeitraum wirken. Auch die ehemaligen Peschmerga, die jetzt im Irak sind, müssen in die Türkei zurückkehren können. Andernfalls stellen sie einen unkalkulierbaren Risikofaktor dar.

Berliner Zeitung: Müssen diese Veränderungen noch vor der EU-Entscheidung über Beitrittsverhandlungen erfolgen?

Beer: Nein, einen solchen tief greifenden Wandel kann man nicht von heute auf morgen verlangen. Die notwendigen Ansätze sind da. Wenn keine Rückschläge erfolgen, sollte die EU-Kommission der Türkei ein Datum für Beitrittsverhandlungen nennen. Ich halte Anfang 2005 für realistisch.

Berliner Zeitung: Steht damit für Sie der Beitritt fest?

Beer: Nein. Der Schlüssel dafür liegt in der Hand der türkischen Regierung und der Umsetzung aller Reformen. Darüber hinaus muß die Türkei entscheiden, ob sie als EU-Mitglied auf Teile ihrer Souveränität zugunsten des Bündnisses verzichten will und zu einer weitgehenden Reform und Reduzierung des Militärs bereit ist.

Berliner Zeitung: Die CSU macht gegen die Beitrittsverhandlungen mobil .

Beer: Diese Frage hat im Europawahlkampf nichts zu suchen. Wer aber wie die CDU/CSU eine populistische Kampagne gegen die Türkei einläutet und für ihre endgültige Ausgrenzung plädiert, geht das Risiko ein, den Demokratisierungsprozess zu stoppen, Europa zu spalten und den inneren Frieden unserer Gesellschaft zu gefährden. Das ist fatal: die Türkei gehört zu Europa.

 

Das Gespräch führte Sigrid Averesch.

 

© 2004 - Angelika Beer, MdEP.
Dieser Text ist Teil des Internetauftritts von Angelika Beer, MdEP.
www.angelika-beer.de

 

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