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Angelika Beer
MdEP

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10 Jahre Dayton - Der Balkan am Scheideweg

04.10.2005

Die Lage auf dem Balkan ist nach wie vor verfahren. Gerade wegen der unter- schiedlichen Verflechtungen und gegen- seitigen Abhängig- keiten ist Frieden in der Region nur durch eine politische Gesamtstrategie für den gesamten Balkan zu erreichen. Um die zahlreichen Erfahrungen, Aktivitäten und Kontakte innerhalb der grünen Fraktion des Europäischen Parlaments zu bündeln und sie in eine Initiative für eine Gesamtstrategie münden zu lassen, hat mir die Fraktion die Koordination in Sachen Balkan übertragen.

Im folgenden will ich die Zusammenhänge der drei Balkanregionen Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Makedonien deutlich machen und die notwendigen nächsten Schritte aufzeichnen. Dies ist zwingend, um zu verhindern, dass die öffentliche Aufmerksamkeit sich jeweils nur auf "Brennpunkte" konzentriert. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Balkan zu Europa gehört und wir dort die größte Verpflichtung haben, einen Rückfall in ethnische Auseinandersetzungen zu verhindern. Gerade jetzt, 10 Jahre nach dem Friedensvertrag von Dayton, gilt es deshalb, den Balkan angesichts des Streites um den Beginn der EU- Verhandlungen mit der Türkei und nach dem vorläufigen Scheitern der Verfassung nicht in Geiselhaft zu nehmen. Vor uns liegt die politische Herausforderung, das Abkommen von Dayton zu überwinden und die Statusfrage des Kosovos schnellstmöglich zu klären. Die Verhandlungen darüber beginnen im Dezember 2005, und schon im November wird die Kommission über den Kandidatenstatus von Makedonien und das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit Bosnien-Herzegowina entscheiden. Ebenso steht die Aufnahme der Verhandlungen mit Kroatien auf der Tagesordnung.

Abkommen schreiben ethnische Trennlinie fest

Die folgende Einschätzung basiert auf der Konferenz der Grünen EP Fraktion anlässlich des 10. Jahrestages des Massakers von Srebrenica im Juli 2005 und meinen Reisen zu EUFOR in Bosnien, sowie ins Kosovo und nach Makedonien in diesem Sommer.

Eine ungeschminkte Bilanz ist gleich am Anfang klar zu benennen: Alle bisherigen Abkommen (Dayton, UN SR 1244, Ohrid) haben die ethnischen Trennlinien festgeschrieben. Die nachstehende Analyse ist bewusst kritisch gehalten und beschränkt sich darauf, Parallelen und Fehlentwicklungen in der Region des westlichen Balkans aufzuzeigen.

Bei der Suche nach Annäherung an die EU halten wir daran fest, dass trotz unterschiedlicher Entwicklungen für all diese Länder dieselben Voraussetzungen für die Annäherung an den Europäischen Standard gelten:

- Sicherheitsgarantien für alle Minderheiten
- Anerkennung von bestehenden Grenzen
- Volle Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ICTY)
- Reform bei Justiz, Polizei, Militär und Verwaltung

Politischer Überblick

Die Regierung Kosumi im Kosovo ist im Vergleich zur Vorgängerregierung von Haradinaj unpopulär in der Bevölkerung. Ebenso wird die internationale UN-Verwaltung (UNMIK) negativ bewertet und ihr jegliche Legitimität abgesprochen. Die meisten Kosovaren sind der Meinung, dass nur sie über die Zukunft des Kosovo zu bestimmen haben. Serbische Mitspracherechte werden prinzipiell ebenso wie das Problem Mitrovica im Nord-Kosovo ignoriert, obgleich die Regierung eine Delegation für Statusverhandlungen benannt hat.

Anders in Makedonien: Obwohl die Regierung von Premier Buchkovski auf wackeligen Beinen steht, ist er populär. Er ist der erste Premier ohne Verbindungen zu den alten Machstrukturen. Seine Regierung hat es geschafft, alle Punkte des Ohrid-Abkommens zu ratifizieren. Auch wenn es bei der Implementierung noch Unzulänglichkeiten gibt, dieses Abkommen hat 2001 das Ende des Bürgerkrieges möglich gemacht. Die große Frage ist momentan, wie sich die albanischen Politiker in naher Zukunft verhalten. Einige tendieren zu einer Radikalisierung, andere wollen einen moderaten Kurs einschlagen. Die Erwartungen der gesamten Bevölkerung mit Blick auf eine Verbesserung der Arbeitsplatzsituation und der Sozialsysteme hat die Regierung bislang enttäuscht.

Bosnien Herzegowina ist nach wie vor in der Hand von Nationalisten aus allen ethnischen Lagern. Diese haben sowohl die Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen gewonnen. 10 Jahre nach Dayton funktioniert Bosnien nicht als demokratischer Gesamtstaat, sondern ist de facto ein ethnisch gespaltenes Protektorat. Der Vertrag von Dayton und mit ihm der Hohe Repräsentant Ashdown verhindern die umfassende Übernahme von eigener Verantwortung. Trotz der gerade beschlossenen Zusammenlegung des Militärs gibt es bei der Polizei- und Justizreformen eine Blockade. Insbesondere in der Republik Srbska zeigt sich, wie sehr die Politik Polizei und Justiz beeinflusst. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Internationale Gemeinschaft und damit die EU an Glaubwürdigkeit verliert.

Sicherheitlage

Die Lage im Kosovo ist oberflächlich ruhig, aber Gewaltausbrüche wie im März 2004 sind jederzeit und überall in der Region möglich. Allerdings macht die Kosovo-Polizei (KPS) Fortschritte, wenn auch nur langsam. Die Frage ist allerdings, wer nach dem Ende der UNMIK-Polizeimission die KPS weiter berät und überwacht. Offen ist die Zukunft der KPC/TMK (UCK-Nachfolgeorganisation), die sich selbst als zukünftige Armee des Kosovo versteht, aber lediglich Zivilschutzaufgaben übernehmen sollte. Eine internationale Präsenz im Kosovo wird weiterhin über Jahre nötig sein. Eine Reduzierung von KFOR muss mit einer verstärkten Polizeipräsenz der EU mit Exekutivrechten einhergehen.

Die Sicherheitslage in Makedonien ist deutlich verbessert. Dies bedeutet aber nicht, dass die Gefahr von interethnischen Auseinandersetzungen vollständig gebannt ist. Der Großteil der Albaner schaut momentan abwartend auf die Entwicklung im Kosovo. Seit 2 Jahren ist die EU-Polizeimission PROXIMA vor Ort. Sie gilt als Krisenmanagement-Operation und wird im Dezember 2005 auf Wunsch der Regierung auslaufen und durch eine beratende EU-Polizeimissionen ersetzt. Typisch, nicht nur für Makedonien, sind Situationen, in denen die Geltung des Rechts nicht durchgesetzt werden können. Dazu zählt die Republica Srbska ebenso wie Nordkosovo, Poroj oder Kondovo in Makedonien.

Obwohl die Volksgruppen in Bosnien seit dem Dayton Abkommen getrennt sind, kommt es unverändert zu Spannungen. Die EU-Militäroperation EUFOR ALTHEA versucht hier seit Dezember 2004 mit 7000 Soldaten die Sicherheitslage zu stabilisieren. Militärkreise sehen EUROR als "Testlauf" für die spätere Übernahme der Verantwortung im Kosovo durch die EU. Strukturelle und Mandatsmängel verhindern allerdings, dass EUFOR selbständig aktiv sein kann. Auch hier ist eine Polizeimission mit Exekutivrechten erforderlich, um die Sicherheitslage qualitativ zu verbessern.

Minderheiten

Nirgendwo sind die Minderheiten wirklich sicher. Dabei geht es um Flüchtlinge und IDPs (In Country Displaced Persons).

Auch wenn es in einigen wenigen Gemeinden des Kosovo Rückkehrer gibt, ist die Sicherheit und Bewegungsfreiheit der serbischen Minderheit faktisch nicht gewährleistet. Daran ändert auch die Präsenz von UNMIK in der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica nichts. Die Situation der Roma im gesamten Kosovo ist so problematisch, dass diese mittlerweile nach Serbien übersiedeln. Trotz vieler Millionen Euro Wiederaufbauhilfe gelingt die Reintegration der Flüchtlinge nicht. Die Gelder werden nicht in ein lebenswertes und sicheres Umfeld investiert, sondern fliessen lediglich in Infrastrukturmaßnahmen. Erschwerend kommt die unverantwortliche Abschiebepraxis aus EU-Ländern hinzu. Sie ist nicht nur inhuman, sondern destabilisiert im Kosovo wie auch in Bosnien durch unkontrollierte Rückführung in Regionen, wo die Flüchtlinge nicht akzeptiert werden.

Makedonien teilt sich im Zuge der Umsetzung des Ohrid-Abkommens immer stärker nach ethnischer Zugehörigkeit auf. Es ist absehbar, dass viele bis jetzt noch ethnisch gemischte Gemeinden sich nach dem Vorbild der Albanisierung von Tetovo verändern werden. Entsprechende nationalistische Wegmarken begleiten einen überall auf dem Balkan in Form von neu errichteten überdimensionalen Moscheen oder Kreuzen..

Ähnliches gilt für Bosnien-Herzegowina. Selbst die symbolbeladene Brücke von Mostar verbindet nur von Kroaten bewohnte Gebiete. Bislang sind nach offiziellen Angaben etwa 50% der Flüchtlinge zurückgekehrt. Doch wohin, wer weiß das?

Wirtschaft

Über 50% der Menschen in der Region sind arbeitslos, über 30% leben unter der Armutsgrenze. Die Mehrheit der gebildeten und ausgebildeten Menschen insbesondere die Jugend strebt fort. Ein Großteil der Eigentumsverhältnisse ist ungeklärt. Die Schattenwirtschaft ist dominant und ich habe keinen Zweifel, dass es den Drahtziehern von Korruption und Schwarzmarkt gelingen kann, jede Regierung zu stürzen, sollte sie nicht manipulierbar sein.

Die Ausweisungspolitik der EU verhindert eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, da mit jeder Ausweisung oder Abschiebung mehr Arbeitslose auf dem Balkan sind, die keinen Beitrag zur Stützung der Volkswirtschaft leisten können.

Die Menschen im Kosovo glauben, dass Investoren in Scharen kommen werden, sobald der Status des Kosovos und die Annäherung der Region an die EU geklärt seien. Hier gilt es Realismus einziehen zu lassen, denn ohne Sicherheit keine Investitionen. Im Kosovo ist eine leichte Verbesserung im Bereich der Landwirtschaft identifizierbar. Dass die allgemeine Situation nicht noch schlechter wird, liegt an den noch hohen Transferzahlungen aus der EU.

Trotz Marktöffnung ist die Situation in Makedonien unverändert desolat. Wichtige Rohstoffe verlassen Makedonien, obgleich sie vor Ort weiter verarbeitet werden könnten. Langfristige Planungen oder Investitionen fehlen, dagegen sind kurzfristige Spekulationsgeschäfte an der Tagesordnung. Investoren werden insbesondere von Korruption und Intransparenz der Verwaltung abgeschreckt. Vor diesem Hintergrund ist es das falsche, Signal, dass die Regierung die Mittel zur Korruptionsbekämpfung gekürzt hat.

Für Bosnien-Herzegowina ist lediglich der Handel mit den unmittelbaren Nachbarländern Kroatien und Serbien zufrieden stellend. Korruption dominiert und schreckt auch hier ausländische Direktinvestitionen ab. Nur durch Geldtransfers von Exilanten wird das Überleben gesichert.

Ausblick

Je näher die Statusklärung im Kosovo rückt, desto dringender muss dem Westbalkan eine klare EU-Perspektive gegeben werden. Rückfälle in die noch junge Vergangenheit sind sonst nicht auszuschließen. Dazu zählt, dass allen Partnern im Westbalkan, von Serbien über Kosovo bis Bosnien-Herzegowina ein Angebot gemacht wird. Der Kandidatenstatus kann zumindest erreichen, dass die aufwendige Struktur mit derzeit 29 unterschiedlichen Freihandelsabkommen für den Westbalkan deutlich vereinfacht und praktikabel wird.

Parallel zur Statusklärung, die möglichst bald ihren Abschluss finden muss, ist die EU aufgefordert, dem Kosovo eine Perspektive zu geben. Für den Kosovo kann es nur eine konditionierte Unabhängigkeit geben: Das bedeutet eine internationale Militär- und Polizeipräsenz. Dies bedeutet auch, dass kurzfristig eine Polizeimission mit Exekutivrechten geplant werden muss, die UNMIK ersetzt. Viel wird von dem Bericht des UN-Gesandten Eide Anfang Oktober abhängen. Parallel hierzu muss die EU Serbien Angebote machen, die über ein Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen (SAA) hinausgehen.

Makedonien arbeitet hart an der Beantwortung der Fragen der Europäischen Kommission. Außerdem setzt sich das Land mit der "Adriatic Charta" " für eine umfassende regionale Zusammenarbeit ein. Das ist anzuerkennen und fordert die EU in der avisierten neuen Struktur in Makedonien, alle möglichen Synergieeffekte zu nutzen.

Wegen der blockierten Polizeireform, der fehlenden Kooperation mit dem ICTY und Unzulänglichkeiten in 16 anderen Bereichen, wie sie die EU-Kommission aufgelistet hat, wird die EU auch diesen Herbst Bosnien-Herzegowina kein SAA anbieten können.

Konsequenzen

Dayton muss endgültig überwunden werden und Bosnien-Herzegowina in Eigenverantwortung übergeben werden. Hierfür müssen sowohl Anreize für eigene Anstrengungen gefördert werden, als auch die internationalen Rahmenbedingungen für eine internationalen Konferenz geschaffen werden. Wenn es nicht gelingt, die Fehler von Dayton und ihre Auswirkungen für den Gesamtzustand des Westbalkans zu analysieren und zu korrigieren, dann ist der nächste gewaltsame Konflikt auf der Schwelle Europas vorprogrammiert. Dem gilt es mit aller Entschiedenheit entgegenzuwirken. Minimum ist, der gesamten Region den Kandidatenstatus zu erteilen.

Angelika Beer MdEP

 

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Dieser Text ist Teil des Internetauftritts von Angelika Beer, MdEP.
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