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Angelika Beer
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Von Ankara über Kopenhagen nach Brüssel - Die Kopenhagener Kriterien

von Angelika Beer

Was hat der Europawahlkampf mit einem möglichen EU-Betritt der Türkei zu tun? Eigentlich nichts! Nachdem die Türkei seit 1999 offiziell als Beitrittskandidat der EU anerkannt ist, muss sie wie alle anderen Beitrittsländer bestimmte Vorbedingungen erfüllen ¬ñ die Kopenhagener Kriterien.

Demnach muss die Türkei wirtschaftlich und politisch bestimmte Standards erfüllen und den klaren Willen haben, sich die aus der EU-Mitgliedschaft ergebenden Ziele und Verpflichtungen zu eigen zu machen. Die EU-Kommission wird am Ende dieses Jahres entscheiden, ob die Türkei die Bedingungen erfüllt und ein konkretes Datum für den Beginn der Verhandlungen genannt wird.

Die klare Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei und die genannten Vorbedingungen haben eine früher unvorstellbare politische Dynamik ausgelöst und seit 2001 wichtige Reformen in der Türkei befördert. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßen die Abschaffung der Todesstrafe, die Bekämpfung von Folter, die Liberalisierung des Vereins- und Versammlungsrechts, die Wiederaufnahmemöglichkeit von Gerichtsverfahren nach entsprechenden Urteilen des Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und größere Religionsfreiheit. Verbesserungen wurden auch im Bereich der Meinungsfreiheit und der kulturellen Rechte insbesondere der kurdischen Bevölkerung beschlossen. Wir begrüßen zudem, daß der Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen aufgehoben wurde und der Einfluß des Militärs auf die politischen Institutionen beschränkt wurde.
Die türkische Regierung hat darüber hinaus weitere Reformen wie die Verankerung der Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung und die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte eingeleitet.

Dieser Reformprozess ist ebenso ehrgeizig wie beeindruckend. Während meines Aufenthaltes in Istanbul, Ankara und Diyarbakir im April 2004 konnte ich bei zahlreichen Gesprächen mit Regierungsmitgliedern, Menschenrechtsaktivisten, Parteien und Verbänden einen guten Einblick in den aktuellen Stand des Reformprozesses gewinnen. Mit den bisherigen Maßnahmen wurden gesellschaftliche Prozesse eröffnet, die zuvor ausgeschlossen schienen. Alte Machtverhältnisse und Traditionen brechen auf und geben dem politischen Wandel eine eigene Dynamik.

Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind die weitere Reformschritte und ihre Umsetzung in der Praxis Gradmesser für den Veränderungswillen in der Türkei. Erst wenn z.B. Folter in staatlichen Einrichtungen nicht nur verboten, sondern auch, disziplinarrechtlich und durch die Fortbildung der Polizisten bekämpft wird und sich Minderheiten sicher und gleichberechtigt fühlen, kann man von der Erfüllung der höchsten Aufgabe eines jeden Staates sprechen: nämlich den Schutz und die Sorge ums Wohlergehen der eigenen Bürger und Bürgerinnen. Der Umsetzungsprozess der beschlossenen Demokratisierungsmaßnahmen in die Praxis kann zwar nicht von heute auf morgen gelingen, aber er muß nachweisbar weitergeführt werden. Dies kann nur gelingen, wenn der Reformprozeß von einer breiten Akzeptanz sowohl in der Gesellschaft, aber auch von Justiz und Verwaltung getragen wird.

Wie stark die Widerstände in den bestehenden Strukturen gerade in dieser Frage noch sind, hat das aktuelle Urteil gegen die kurdische Politikerin Leyla Zana gezeigt. Trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der das vor zehn Jahren gegen sie verhängte Urteil als unrechtmäßig erklärte, hat das Gericht das Unrechtsurteil gegen der Willen der Regierung in Ankara bestätigt.

Dies macht eines der größten ungelösten politischen Probleme deutlich: Trotz aller Reformen durch die AKP-Regierung gibt es keinen Ansatz und damit auch nicht den Willen, die Kurdenfrage politisch zu lösen. Die Verarmung im Südosten des Landes geht weiter und wird als nicht zu lösendes Strukturproblem bezeichnet. Der Satz vom ehemaligen Regierungschef Yilmaz ¬ÑDer Weg nach Europa führt über Diyarbakir¬ì ist nach wie vor treffend, aber leider aus dem Bewußtsein des Regierungshandelns verdrängt worden. Dieser Umstand birgt einen Risiko für den gesamten Reformprozeß. Denn solange die kurdische Bevölkerung nicht alle kulturellen Rechte erhält, das "Dorfschützersystem" nicht abgeschafft und Verbotsverfahren wie gegen die DEHAP weiterbetrieben werden, wird es keine wirkliche Demokratisierung geben können.

Gerade wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sich über Jahre für Menschenrechte und Demokratie in der Türkei eingesetzt haben, unterstützen den eingeschlagenen Weg der AKP-Regierung und setzen uns für eine klare Beitrittsperspektive ein - denn beides bedingt sich gegenseitig. Für einen EU-Beitritt sind die Kopenhagener Kriterien unverhandelbare Voraussetzung. Umgekehrt gilt aber auch: Wer das Versprechen der EU von 1999 gegenüber der Türkei in Frage stellt, riskiert, daß der Reformprozeß um Jahre zurückgeworfen wird.

Wir werden nicht zulassen, daß mit der schönfärberischen Formulierung wie "Privilegierte Partnerschaft" die Spaltung Europas gepredigt wird und die bei uns lebenden Türkinnen und Türken diskriminiert werden. Der Anti-Türkei-Kampagne von Merkel und Stoiber werden wir entschieden und sachlich entgegentreten.


Die Kopenhagener Kriterien:

Damit die EU Ende dieses Jahres die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen beschließen kann, müssen drei Gruppen von unverhandelbaren Vorbedingungen erfüllt sein:

Das politische Kriterium: Institutionelle Stabilität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und der Schutz von Minderheiten.

Das wirtschaftliche Kriterium: Eine funktionsfähige Marktwirtschaft mit der Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten.

Das "Acquis"-Kriterium: Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen, das heißt: Übernahme des gemeinschaftliche Regelwerkes, des sogenannten "acquis communitaire".

Dieser Text erschien anlässlich des Europawahlkampfs 2004 in der türkischsprachigen Wahlkampfzeitung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

 

© 2004 - Angelika Beer, MdEP.
Dieser Text ist Teil des Internetauftritts von Angelika Beer, MdEP.
www.angelika-beer.de

 

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